Ein Malseminar in St. Gerold

Einmal mehr stehe ich am offenen Fenster und kann mich nicht satt sehen.
Weich ergießt sich frühmorgens das Licht über das Walsertal, tupft etwas zärtliches Rosa auf beschneite Bergspitzen, taucht den Himmel in tiefes Kobaltblau und entfaltet ganz allmählich die Landschaft in kristallener Klarheit vor meinen Augen. Die Luft ist frisch und duftet nach Harz und feuchtem Laub. Die Pferde drüben in der Koppel haben Heu bekommen und schnauben zufrieden. Zwei Burschen mit Eimern stapfen durch den Garten und schneiden Gemüse für die Küche.

Der Tag in der Propstei St.Gerold hat begonnen. Es ist für eine Weile mein letzter Seminartag an diesem Ort. Ich bin wehmütig und zufrieden. Es war eine gute Woche, denk‘ ich, nein, eine sehr gute, eine fabelhafte Seminarwoche!
Die Freude bei den teilnehmenden Malerinnen ist groß. Feine, beglückende Bilder sind entstanden und erzählen von der Schönheit dieses Tales, führen von grünen Teichen über dunkle Wälder bis hinauf zu den kantigen Bergspitzen. Wir werden sie heute noch einmal ausführlich betrachten, über ihre überraschenden Entwicklungen staunen, das eine oder andere Unvollendete noch zu Ende bringen.

Ah ja, da fällt es mir ein, wir werden noch ein Gemeinschaftsbild schaffen müssen, das haben wir der tüchtigen Restaurantchefin versprochen. Ein Bild, hat sie sich gewünscht, wie wir es gestern spontan für eine Braut geschaffen haben, die hier  Hochzeit feierte. Die festliche Aufregung war bis zu uns in den Innenhof spürbar inspirierend. Schnell war ein großes Papier besorgt, auf dem wir, erfahrene Königinnen die wir sind, alle unsere Gedanken und herzlichen Wünsche mit sanften Pastellfarben festhielten, um sie der jungen Prinzessin mit auf den Weg zu geben. Große Freude herrschte bei allen und es wäre ja gelacht, wenn sich dies nicht wiederholen ließe!
Ach, denke ich, auch von all den Küchengenüssen muss ich für einige Zeit Abschied nehmen, den frischen Kräutern und  Salaten aus dem Propsteigarten, den köstlichen Kuchen und Desserts und halt zuhause wieder selbst Hand anlegen.

An der Pforte verabschiedet sich wortreich scherzend auch der gemischte Chor, den wir zwischendurch hören durften und neue Gäste, beladen mit schweren Taschen und Instrumenten, treffen ein. Wieder wird Musik durch Kirche, Haus und Hof klingen, Gesänge und Lesungen werden stattfinden und irgendwo und irgendwie werden auch unsere Farben und Bilder dort in den alten Räumen weiterleben, bis ich wieder kommen kann. Und ich bin mir sicher, dass ich wieder hierher zurückkehren werde, dafür sorgt schon der wunderbare Geist von St.Gerold!